Morgendämmerung irgendwo tief im Atchafalaya Sumpf Louisianas. Beleuchtet von den ersten Sonnenstrahlen, wandern Nebelschwaden wie kleine Feuer über das dunkle Wasser. Noch ertönt kein Konzert von Millionen von Fröschen, nur eine einsame Eule ruft aus dem Wald heraus. Ohne Kraftanstrengung und beinahe geräuschlos gleitet das Kanu durch ein Labyrinth aus riesigen Bäumen und bizarren Luftwurzeln hindurch. Alle paar Sekunden ein sanfter Paddelschlag, mehr braucht es nicht. Aus den Baumkronen und von dicken Ästen hängt „Spanish Moss“, kein Moos sondern ein Bromelien Gewächs, herab und bildet dichte Vorhänge, die jedweden tieferen Blick in den mystischen Wald verbergen. Hinter jeden Baum, hinter jedem Bromelienvorhang kann eine Überraschung lauern. Ein dösender Biber, ein Reiher, der gerade einen Fisch auflauert oder gar ein Alligator. Nachts, beim Paddeln mit Kopflampe, konnte ich sie überall zahlreich erkennen, weil ihre Augen wie Scheinwerfer das Licht meiner Lampe reflektierten. Jetzt ist es hell und es bedarf schon viel Erfahrung, sie noch zu entdecken. Manchmal überraschen wir uns beide – Paddler und Echse – dann verschwinden der Alligator mit einem enormen Platsch, als wäre ein Auto ins Wasser gestürzt, taucht ab und ist verschwunden. Nur der Paddler bleibt mit klopfendem Herz zurück. „Wird schon nicht mehr wiederkommen!“ denke ich mir, denn ich muss nun raus aus dem schützenden Kanu und rein ins Wasser, um das Stativ aufzustellen. Seit gut zehn Jahren komme ich ein bis zweimal pro Jahr hier her und verbringe ein paar Wochen in diesen Sümpfen. Es ist eine Gegend, die selbst in den USA nur wenige Menschen kennen und die von noch weniger Menschen besucht wird. Das liegt freilich nicht am Mangel an Schönheit und Magie der Landschaft, auch nicht an den Alligatoren, Spinnen oder Schlangen, sondern vor allem an seiner Unzugänglichkeit. Nur wer einmal herausgefunden hat, wie man dieser magischen Wildnis ein paar Geheimnisse abringen kann, kommt nicht mehr davon los.
Ein paar verwegene Leute leben sogar inmitten der Sümpfe. Sie wohnen in Hausbooten oder skurrilen Stelzenbauten, leben vom Fischfang und Jagd. Heutzutage sind dies vor allem Aussteiger oder merkwürdige Hilly-Billies, noch vor ein paar Jahrzehnten traf man auf jedoch noch auf weitestgehend isoliert lebende Cajuns, die nur französisch sprachen. Cajuns stammten ursprünglich aus dem französisch sprechenden Ost Kanada und wurden einst von den Briten vertrieben. Sie siedelten sich vorwiegend hier im tiefen Süden an. So mancher Bewohner Louisianas ist den Briten dafür ein wenig dankbar, hat doch die Cajun Kultur und Lebensart für die allseits beliebte und weltberühmte Küche gesorgt. Würziges Jambalaya oder Filet Gumbo versus Fish’n Chips.
Es gibt eigentlich nur einen Weg, dem Zauber der Zypressensümpfe auf die Spur zu kommen: Per Kanu. Man kann freilich versuchen, am Ufer eines Sumpfes stehend einen Blick von außen in diese mystischen Wasserwälder zu erhaschen oder eine Runde mit einem Touristen-Ausflugsboot zu drehen, am Ende bleibt man zum Zaungast degradiert. Sich zu Fuß auf den Weg machen, braucht man gar nicht erst anzudenken. Man käme keine drei Meter weit, ohne über einen verborgenen Ast oder Baumstamm zu stolpern, die man im trüben Wasser freilich nicht sehen kann. Dort, wo keine Hindernisse unter der Wasseroberfläche lauern, ist das Wasser zu tief oder der Untergrund zu schlammig. Diese Gewässer sind nicht geeignet zum Schwimmen oder Baden und man kann diesen „Genuß“ getrost den Reptilien und Fischen und so manchen leicht verrückten Fotografen überlassen.
Zypressensümpfe sind im flachen „Tiefen Süden“ der Vereinigten Staaten kein seltener Lebensraum. Zwischen Florida und Texas reihen sich gigantische Feuchtgebiete aneinander, von den Everglades bis zum Lake Okefenokee. Mitten drin, wenig bekannt aber nicht minder imposant ist das Atchafalya Becken, das zum Mississippi Delta zählt. Ein großer Teil dieses Gebiets ist Sumpfgebiet und war einst fast vollständig von riesigen und hohen Sumpfzypressen bewachsen. Sumpfzypressen (Bald Cypress im Englischen) haben sehr schönes und sehr beständiges Holz, was ihnen schon vor über 100 Jahren in Form von massiven Kahlschlägen zum Verhängnis wurde. Von den einst scheinbar endlosen Sumpf-Urwäldern, blieb nur mehr der sumpfige Boden. Und auch dieser wurde erfolgreich drainagiert oder durch Dämme, die hier Levees heißen, von den Flüssen abgeschnitten. Sumpfzypressen stehen heute zwar unter Schutz, doch findet man kaum noch Gegenden, wo noch erwähnenswerte Bestände aus alten und riesigen Baumriesen aus dem Sumpf ragen. Aber es gibt sie noch. Beim Caddo Lake in Texas oder beim Lake Fausse Pointe in Louisiana kann man – mit ein wenig Abenteuergeist – fündig werden. Kanu vorausgesetzt. Freilich geben auch dann die Zypressensümpfe ihre vielen Geheimnisse nur spärlich frei. Im trüben Wasser etwa, tummeln sich unfassbar viele Lebewesen. Mehr und größere als man ahnen würde. Mitunter auch Furcht einflößender. Allseits bekannt sind die hier heimischen Mississippi-Alligatoren. Sie können an die sechs Meter lang und beinahe 500 Kilogramm schwer werden. Sie verstecken sich nicht und sonnen sich gerne an Baumstämmen. Am Menschen sind sie nicht interessiert, obwohl es schon Fälle gab, wo dies den Panzerechsen offenbar nicht bekannt war. Der seltsame Löffelstör hingegen ist harmlos und kann bis zu zwei Meter lang werden, die Geierschildkröte bis zu 180 Kilogramm schwer. Die am Grund auf Beute lauernde „Alligator Snapping Turtle“ (so ihr englischer Name), kann mit ihrem kräftigen Biss schon auch eine Hand oder ein paar Zehen samt Gummistiefel „amputieren“. Auch nicht von schlechten Eltern ist der Alligator Hecht. Ein mit großen, spitzen Zähnen bewaffneter Süßwasserfisch der Gattung Knochenhechte, der wie ein Urzeit-Überlebender aussieht und über drei Meter lang und 130 Kilogramm schwer werden kann.
Weil sich das Erforschen der Sumpf-Fauna wegen des immer trüben Wassers kompliziert gestaltet, hat man in den 1950er Jahren da und dort ein paar Dynamitstangen ins Wasser geworfen und war fassungslos, wie viele tausende Fische in allen Größen plötzlich regungslos an der Oberfläche trieben. Heute ist man diesbezüglich freilich etwas umsichtiger und versucht anhand wissenschaftlicher Projekte den Geheimnissen der Sümpfe auf die Spur zu kommen. Zahlreiche Angler tragen mitunter zu neuen Erkenntnissen bei, indem sie Bilder und Fang-Orte ihrer ungewöhnlichen Beute an die Biologen weiterleiten.
Apropos Angler. Angesichts des respekteinflößenden Sumpfgetiers mutet eine spezielle Fischfangmethode unter den (meist männlichen) Locals hier im tiefen Süden ganz besonders seltsam an: Das „Noodeling“. Dabei begibt man sich mit ganzem Körper ins sumpfige Wasser und stochert mit dem bloßen Händen oder gar Armen unter Wasser in Höhlenbauten der schmackhaften Welse herum. Verwechselt so ein Wels den Arm mit Beute, verschlingt er ihn. Allerdings hat der Wels keine scharfen Zähne und so kann der verwegene „Noodeler“ den Fisch an die Oberfläche bringen und - oftmals unter Schmerzen – den Arm wieder herausziehen. Natürlich ist das nicht ganz ungefährlich, denn es kommt vor, dass sich in so einer vermeintlichen Wels-Höhle auch eine Geierschildkröte befindet…
An daran muss man ja nicht unbedingt denken, wenn man mit dem Kanu durch diesen Wasserwald gleitet. Besonders im Spätherbst, ab November, gibt es nämlich über der Wasseroberfläche viel mehr zu bewundern. Als einzige Vertreter der Zypressengewächse, wirft die Sumpfzypresse im Winter ihr Laub ab. Nicht ohne zuvor für ein echtes Herbstfarbenspektakel zu sorgen. Mit den ersten kalten Nächten verfärben sie sich gelb, rotbraun und mitunter orangerot. Riesige, bizarre Bäume stehen dann mit farbenfroher Krone im Sumpf, teils treibt das bunte Laub im dunklen Wasser oder sammelt sich beim Herabfallen an den Luftwurzeln. Zugvögel, die im Winter das Warme Louisiana aufsuchen, versammeln sich nun gerne auf den großen Bäumen. Es ist eine allseits beliebte Jahreszeit im tiefen Süden, wenn nicht die beliebteste. Keine Hitze mehr, keine Mückenschwärme. Zu Halloween und später rund um Thanksgiving, am vierten Donnerstag im November, ziehen die Einheimischen in Scharen zu den diversen Campgrounds am Rande der Sümpfe. Man angelt, grillt am Lagerfeuer und schaut abends - inmitten der schönen Natur - American Football via mobiler Satellitenschüssel. Danach kehrt wieder Stille ein in den Sümpfen. Nur ein paar hartnäckige Fotografen bleiben noch.
Schlussanmerkung: Da sich bei einigen anderen Stories sowie auch in der Portfolio-Sektion ohnehin schon so viele Zypressensumpfbilder finden, haben wir hier darauf verzichtet.